Samstag, 2. Januar 2010

Lerch, Frank, Io Erbeth. Mythos und Magie des ägypt. Gottes Seth, Edition Roter Drache: Rudolstadt 2008, PB, 224 S., ISBN 978-3-939459-14-9, 18,00 €.


Die Mystik und Magie des ägyptischen Gottes Seth genauer zu betrachten und dazu für eine breite, magisch interessierte Leserschaft Grundsätzliches zutage zu fördern, ist ein hehres und überfälliges Unternehmen, das jetzt mit dem ersten Band zu dieser vielschichtigen Gottheit angegangen wurde.
Frank Lerch, Autor so hochgelobter und weit geachteter Werk wie Ouroboros Files oder Nightworks, veröffentlichte bisher im Bohmeier Verlag, in der Edition Esoterick oder im Eigenverlag; der nun erschienene Band wird von der Edition Roter Drache herausgebracht.
Seine Untersuchung zu Seth ist auf zwei Bände angelegt. Der erste Band beschäftigt sich mit den mythologischen Schilderungen, in denen von Seth erzählt wird. Der zweite Band dann soll sich mit Seth aus der magischen Perspektive befassen, also mit den Möglichkeiten, sich die Sethianische Kraft erfahrbar zu machen.
Der vorliegende Band ist also in erster Linie eine intellektuelle Annäherung an Seth, die als Biographie des Gottes beschrieben werden kann. Ausgehend von der nach wie vor ungeklärten Identität des Seth-Tieres werden die ägyptischen Quellen unter verschiedenen Gesichtspunkten gegengelesen und ausgewertet. Ob es Seths Name ist, seine Darstellung, seine Geburt, sein Verhältnis zu den Göttinnen Nephthys, Isis, Anath oder Astarte: Immer erscheint Seth vieldeutig. Seine Rolle ist ähnlich, aber die Bewertung seines Wesens und Handelns schwankt stark und scheint von den Problemen der ägyptischen Gesellschaft mehr abhängig gewesen zu sein als von den mythologischen Zuschreibungen.
Lerch fasst die wichtigsten Mythen, wie die Erzählung von Seths Geburt, seine Auseinandersetzung mit Horus, sein Kampf gegen Osris und seine Rolle als Beschützer des Re vor Apophis zusammen und arbeitet sich erst einmal an der Deutung der Ägyptologen ab. Diese sind meist sehr vorsichtig, vermitteln aber doch ein weitaus differenzierteres Bild als die landläufige Gleichsetzung von Seth und Satan.
Hiebei wird für den Leser offensichtlich, wie viel an Wissen gerade um Seth in Vergessenheit geraten ist. Die einseitige Dämonisierung kann dabei aber nicht dem Christentum in die Schuhe geschoben werden, im Gegenteil: Schon im Alten Ägypten gab es immer wieder Epochen, in denen Seth zum gefürchteten Sündenbock und für alles Bedrohliche verantwortlich gemacht wurde. Was vordergründig nicht falsch ist, folgt man dem Autor. Dabei wird allerdings völlig vergessen, welche Funktion Bedrohung hat; welche Kraft zu Veränderung, zur Entwicklung, welche Möglichkeit zu fruchtbarer Entwicklung dem Umsturz von Ordnung innewohnt.
Ähnliche Funktion erfüllt in hinduistischen Auffassungen etwa Shiva, der in seiner alten Form als Bestrafer der Götter die Ordnung immer wieder bedroht, dabei aber genauso der große Heiler ist und für höchste meditative Einsicht steht. Es kostete die vedischen Philosophen einiges an Überlegung, diesen Außenseiter in die göttliche Ordnung zu integrieren, nicht ohne ihn in seiner Unabhängigkeit und seiner Macht zu beschneiden.
Die Ägypter wählten hier offensichtlich einen anderen Weg. Zu bestimmten Zeiten scheint es eher ein inneres Verständnis für die Notwendigkeit des Sethianischen Charakters gegeben zu haben, in Zeiten, in denen er hochgeachtet wurde, wie zur Herrschaft der Hyksos etwa. Der historische Wandel der Anschauungen zu Seth ist denn auch einer der Hauptaspekte des Buches.
Dennoch wird dabei deutlich, dass die Charakterisierung des Außenseiter fast durchweg dieselbe blieb: Seth ist der Gott der Unordnung, des Chaos, der Krankheit, der Fremde, des Todes, wird mit Leichenfledderei in Zusammenhang gebracht, ermordet seinen Bruder und vergewaltigt seinen Neffen. Gerade seine ungerichtete Sexualität scheint einer der wichtigsten Wesensaspekte gewesen zu sein, der in der ägyptischen Gesellschaft tiefste Verunsicherung und Abscheu hervorrief.
Besondere Aufmerksamkeit sollte der Leser der Interpretation der Mythen um Seth schenken. Hier geht Lerch, nachdem der Forschungsstand umrissen ist, deutlich weiter und erlaubt sich ein erfrischend assoziatives Schreiben, dass Ägyptologen in dieser Form weitgehend verwehrt ist. Seth wird dabei in Analogie schamanischer Initiationsriten zum großen Eingeweihten und Einweihendem, der speziell Horus und Osiris zur Erfüllung der großen Aufgaben verhilft, die vor ihnen liegen.
Mit weiteren Exkursen, wie der genaueren Betrachtung der Sexualität Seths oder einer Erörterung der Rolle des Esels in frühen totemistischen Gesellschaften gelingt es dem Autor immer wieder, verblüffende und anregende Zusammenhänge herzustellen.
Wer also befürchtet, mit dem Buch ein trockenes wissenschaftliches Elaborat präsentiert zu bekommen, fehlt.
Wer sich mit Seth befassen möchte, wird um dieses hervorragend geschriebene Buch nicht herum kommen, genauso wenig derjenige, der bestrebt ist, das eventuell empfundene Chaos in bzw. um sich zu verstehen. Im bewussten Verständnis des Sethianischen Wirkens könnte das Streben nach magischer Fortentwicklung seine Erfüllung finden. Die Vorfreude auf den zweiten Band könnte nicht größer sein.