Sonntag, 3. Januar 2010

Barber, Richard, Der Heilige Gral. Geschichte und Mythos, Artemis & Winkler: Düsseldorf 2004,
416 S., Festband, SU, ISBN 3-538-07203-5,
29,90 €.


Das Thema Gral scheint sich seit einiger Zeit wieder großer Beliebtheit zu erfreuen, gemessen an der Fülle der Publikationen in den letzten Jahren, die das Gefäß im Titel führen. Eines dieser Bücher, "Der Heilige Gral" von Richard Barber, ist im letzten Jahr sowohl in englischer als auch in deutscher Sprache erschienen.
Barber schreibt und veröffentlicht bereits seit seiner Zeit als Student Texte zur mittelalterlichen Geschichte.
Sein erstes Buch, Arthur of Albion, erschien bereits 1961. Seine Themen sind die Erzählungen des Artus-Kreises und die mittelalterliche Ritterlichkeit. Für eine derartige Darstellung erhielt er 1970 den Somerset-Maugham-Preis. Neben diesen und anderen Veröffentlichungen stehen seine Aktivitäten als Verleger. 1969 war er Mitgründer des Verlages The Boydell Press, aus dem später Boydell & Brewer Ltd hervorgingen, einer der führenden Verlage für Abhandlungen zu mittelalterlichen Themen.
Seit 1989 arbeitet der Verlag mit der University of Rochester zusammen; aus dieser Zusammenarbeit entstand die University of Rochester Press in Upstate New York mit einem jährlichen Ausstoß von circa 200 Publikationen.
Das nun vorliegende Werk zum Gral setzt gleich anfänglich die wichtigste Prämisse, auf der die gesamte anfolgende Betrachtung fußt: Der Heilige Gral ist eine literarische Fiktion. Damit ist Barbers Abhandlung eine literarische Spurensuche.
Diesem Diktum folgend, beginnt der Autor seine Untersuchung im ersten Teil des Buches mit dem frühesten Gralroman von Chrétien de Troyes, welches unvollendet kurz darauf drei verschiedene Kontinuatoren fand. Bis dahin waren Gral und Lanze nur soweit genannt, wie es die Handlung um Perceval und Gauvain erforderte. Robert de Boron, der Verfasser der Geschichte des Grals nun stellte das Gefäß ins Zentrum seiner Erzählung. Die als Trilogie konzipierte Geschichte setzt bei den frühen Ereignissen um Joseph von Arimathia ein und geht über die Erzählung von Merlin und Artus hin zu Perceval. Hier wird dann erstmalig der Zusammenhang zwischen dem letzten Abendmahl, dem Blut Christi und dem Gral hergestellt. Auch die Lanze wird so behandelt; sie wird mit der des römischen Legionärs Longinus identifiziert. Der Gral wird eng an die Evangelien gebunden und eine Geschichte des geheiligten Gefäßes seit der Kreuzigung entsteht. Dieses Thema wurde dann immer wieder aufgegriffen und zu einer „entgültigen“ Fassung der Gralsgeschichte geformt.
Es folgen dann anonyme Versionen des Gralromans, der Perlesvaus und der sogenannte Lancelot-Gral, bis sich dann Wolfram von Eschenbach der Geschichte annimmt, sicherlich die geläufigste Version in unseren Längengraden. Sein Parzifal beginnt mit den Taten von Gahmuret, Parzifals Vater. Eine der Neuerungen Wolframs ist die Idee einer Dynastie von Gralsdienern, zu denen Parzifals Familie gehört. Zuvor war es meist der Gral selbst, der seine Hüter durch eine zeitweise sichtbare Aufschrift an der Oberfläche zu sich rief. Reinheit und spirituelle Reife im christlichen Sinne blieben natürlich die Voraussetzung.
Eine mündliche Tradition, die älter als die Schriftzeugnisse ist, kann dabei nicht ganz ausgeschlossen werden; vieles hängt an weiterhin offenen Fragen, wie beispielweise der, ob man den von Wolfram angegeben Gewährsmann Kyot als historische Person nimmt oder nicht.
Der gesamte von Barber dargestellte Kreis der Dichtungen ist im kurzen Zeitraum zwischen 1190 und 1240 entstanden. Jedem Werk kommt ein eigenes Kapitel zu, in welchem die Handlung teils nacherzählt, teils zitiert wird, um dann auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den vorangegangenen Versionen abgeklopft zu werden. Mit den Perceval-Abenteuern ist der Grundstein des arthurischen Prosaromans gelegt, der inhaltlich den Charakter einer religiösen, mystischen Suche annimmt.
Der zweiter Teil ist der detaillierteren Motivsuche in Einzelfragen gewidmet. Bestach der erste Teil durch die ausgedehnten Nacherzählungen der mittelalterlichen Werke und dem Vergleich derselben, werden nun die Motive noch einmal genauer durchdekliniert.
Was genau ist der Gral? Ein Kelch oder eher eine Schale, heilt er, speist er, wie ist er in Szene gesetzt? Welches ist sein Inhalt? Diesen Fragen geht der Autor detailgenau an den vorgegebenen Texten nach. Die Zusammenhänge mit den Evangelien, besonders dem Nikodemusevangelium, aber auch die zum mittelalterlichen Reliquienkult, zur umstrittenen Eucharistie und die Frage nach der Stellung der Kirche zu diesem Gefäß werden beleuchtet.
Spätere Gralromane, wie beispielsweise Die Krone von Heinrich von dem Türlin oder Albrechts Titurel werden vom Autor nacherzählt und deren jeweilige Besonderheiten herausgestellt. Der Heilige Gral bewegte sich dabei immer im Grenzgebiet zwischen orthodoxer Doktrin und Laienfrömmmigkeit.
Im dritten und letzten Teil findet sich dann die Rezeption der Gralgeschichten. Die häufigen Versuche, eine Quelle der Graldichtungen zu finden, bewegte Wissenschaft und Laien früh schon mit ganz unterschiedlicher Intention; interessanterweise meist für die Konstruktion von Nationalgeschichte. In anderen Zusammenhängen konnte der Gral schon mal aus dem Osten kommen oder aber es wurde ein alchemistischer Hintergrund formuliert.
Daneben lassen sich eine Vielzahl künstlerischer Bearbeitungen auffinden, deren bekannteste von Barber angeführt ist: die von Richard Wagner.
Im letzten Kapitel dieses Teiles, überschrieben mit: „Der Gral als Spiegel - Geheime Überlieferungen, esoterische Lehren“, beschäftigt sich Barber mit dem, was er „selektive“ Geschichtsschreibung nennt. Der Gral wird hier meist als zeitloses Mysterium verstanden, mehr als eine Erfahrung, denn als ein materieller Gegenstand. Obwohl beides miteinander einhergehen kann. Werke von Athur E. White kommen ebenso zur Sprache wie die von Otto Rahn oder Julius Evola bis hin zur weit verbreiteten Gemeinschaftsveröffentlichung „The Holy Blood and the Holy Grail“ von Baigent, Leigh und Lincoln (1982). Die in diesem Buch einen Kulminationspunkt erfahrende, oft kolportierte Vorstellung einer Verbindung des Grals mit Katharern und/oder Templern („esoterische oder konspirative Theorie vom Gral“) unterstützt Barber nicht; er bleibt auf dem Feld literaturhistorischer Arbeit. Zumal der Autor für das Aufkommen derartiger Zusammenhänge immer auch eine erste literarische Äußerung und eine anfolgende Tradition ausmachen kann. Schlussendlich könnte sich das Gefühl einstellen, dass alles irgendwie der Gral sei, so endet Barber.
Der große Bogen des Autors von Chrétien de Troyes bis zu den Gralsvisionen des 20. Jahrhunderts ist ein gelungener kulturhistorischer Wurf, der je nach Ausgangslage des Interesses anregend, erregend oder ernüchternd sein kann. Ein großes Buch zum Gral.